Opportunismus und Selbstanpassung

Die Universität Tübingen im Nationalsozialismus

By | 5. August 2010

An der Universität Tübingen ist ein neuer umfangreicher Sammelband zur Geschichte der Bildungsinstitution während der NS-Zeit erschienen. Darin enthalten sind unter anderem Studien zum Alltag an der Universität, zu Verbrechen und zu Personen, zur Lehre rassenkundlicher Themen und der universitären Judenforschung sowie Studien der Aufarbeitung dieser Zeit nach 1945. Insgesamt enthält der Band zahlreiche neue Details und neue Perspektiven zur Entwicklung während der nationalsozialistischen Diktatur – grundsätzlich neu geschrieben muss die Universitätsgeschichte aber nicht werden.

Opportunismus und Selbstanpassung überwogen

Viele Professoren schätzten die Machtergreifung der Nationalsozialisten falsch ein, nicht wenige begrüßten sie, nur ganz wenige haben vereinzelt Widerstand geleistet – so lautet das kurz gefasste Fazit der Uni Tübingen. Die große Mehrheit versuchte durch Anpassung, (Selbst-) Gleichschaltung, Opportunismus oder innere Emigration mit der neuen Konstellation fertig zu werden und ihre Karriere zu gestalten. So haben beispielsweise die Mediziner keinerlei Bedenken gehegt, ob die Zwangsterilisationen mit dem ärztlichen Ethos vereinbar wären. Insgesamt zeigt sich auch am Tübinger Beispiel, dass der Nationalsozialismus an den deutschen Universitäten nicht auf eine kleine Tätergruppe reduziert werden kann.
Das Eingehen auf den Rassendiskurs des „Dritten Reiches“ gehörte sicherlich zu den wichtigsten Veränderungen, die sich an der Universität ereigneten. Viele Fächer nahmen rassenkundliche Themen auf und verarbeiteten sie in einer den neuen politischen Verhältnissen konformen Weise. Zu einem besonderen Schwerpunkt wurde dabei die universitäre „Judenforschung“, die – so lässt sich zeigen – an eine lange Tradition christlich motivierter Judenfeindschaft anknüpfen konnte. So behauptete der katholische Dogmatiker Karl Adam, die Ziele des Christentums und des politischen Antisemitismus des Nationalsozialismus stimmten weitgehend überein. Der Tübinger evangelische Neutestamentler Gerhard Kittel plädierte in seiner Schrift „Die Judenfrage“ für den Ausschluss der Juden aus der deutschen Gesellschaft. Sein Werk brachte es zu unrühmlicher Bekanntheit besonders durch die hypothetische Überlegung, dass letztlich nichts anderes übrig bliebe, als alle Juden umzubringen, falls es nicht gelingen sollte, zu einer befriedigenden Segregationslösung zu kommen.

Mehr zur NS-Zeit an der Universität Tübingen:

Tübinger Arbeitskreis „Universität im Nationalsozialismus
Verschiedene Berichte des Arbeitskreises (zu Juden an der Universität, Zwangssterilisationen, Zwangsarbeit sowie die Aberkennung von Doktortiteln)

Universitätsgeschichte muss nicht neu geschrieben werden

„Die Geschichte des Nationalsozialismus und die Universitätsgeschichte müssen nicht neu geschrieben werden, aber wir haben zahlreiche neue Details und Perspektiven herausarbeiten können“, resümiert Herausgeber Urban Wiesing. Die traditionsreiche, hoch angesehene Universität Tübingen, ein Ort der Bildung und Wissenschaft, sei offensichtlich nicht vor einem Rückfall in Barbarei geschützt gewesen. Die Schutzschicht der Zivilisation könne auch bei einer altehrwürdigen Universität sehr dünn sein. Forschung und Wissenschaft schützten offensichtlich nicht vor ungeheuerlichen Abweichungen von der Zivilisation.
Urban Wiesing, Klaus-Rainer Brintzinger, Bernd Grün, Horst Junginger, Susanne Michl (Herausgeber): „Die Universität Tübingen im Nationalsozialismus“, Franz Steiner Verlag, 2010 (Contubernium – Tübinger Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte 73), 1,136 Seiten, 99 Euro, ISBN 978-3-515-09706-2

Quelle: Uni Tübingen
(Ende) geschichtspuls/05.08.2010/mar