Fundstück aus der Musikgeschichte

Leer-Kassetten und der Tod der Schallplatten

By | 12. April 2010

Manchmal wiederholt sich Geschichte eben doch – etwa bei den aktuellen Copyright-Diskussionen. Werden heute von der Musikindustrie mehr oder weniger illegale mp3-Downloads verdammt, waren es vor gut 30 Jahren noch die in Mode gekommenen Leer-Kassetten. In einem Artikel vom August 1977 stellte die BRAVO dann auch die Frage: „Sind Leer-Cassetten der Tod der Schallplatten?“
Ausgegraben hat man den BRAVO-Artikel im Cliphead-Blog. Dort ist er auch in ganzer Länge und im Original-Layout nachzulesen. (Zu Wort kommen darin übrigens auch die jungen Platten-Jockeys Frank Elstner und Thomas Gottschalk.) Hier nur nachstehend einige Auszüge aus dem Artikel…

„Die kleinen Schachteln mit den Maßen 100 x 63 x 8 Millimeter sind gewaltig auf dem Vormarsch. Gemeint sind die Leer-Cassetten, mit denen zu bestimmten Sendezeiten Millionen vor dem Radio oder Fernsehen sitzen, die Musiksendungen kostenlos ‚anzapfen‘ und sich so eine eigene hausgemachte Hitparade zusammenstellen. Was den Musikfans und stolzen Cassettenrecorder-Besitzern dann noch in der Schlagersammlung fehlt, leihen sie sich als Platte von Freunden aus und überspielen es auf die ‚Heim-Musikbox‘.
(…)
Sauer auf den Leer-Cassetten-Boom ist die Schallplatten-Industrie. Friedrich Schmidt von der Ariola-Geschäftsleitung dazu: „In der Bundesrepublik verursachen die Leer-Cassetten für die Schallplatten-Industrie einen Umsatzverlust von mehr als einer Milliarde Mark. Darunter leiden natürlich auch Komponisten, Texter, Verleger und die Künstler.“

Auch Ralph Siegel, damaliger Chef von Jupiter-Records und Produzent von Chris Roberts oder Peter Alexander, meldete sich in der BRAVO zu Wort: „In gewisser Weise stehlen die Leute, die Songs auf Leer-Cassetten aufnehmen, den Autoren und Künstlern ihr geistiges Eigentum.“ Allerdings sei es für ihn auch verständlich, dass die Teenies die Chance zum Mitschneiden der Musik nutzten.
Bei der Musikindustrie insgesamt konnte man dem Mitschneiden allerdings wenig Verständnis entgegenbringen. Stattdessen wollte man versuchen, beim Gesetzgeber einen Preisaufschlag bei Leer-Kassetten durchzusetzen. „Gedacht ist an eine Verteuerung pro Cassette von etwa zwei Mark“, wurde ein GEMA-Sprecher von der BRAVO zitiert.
Musikindustrie steht „vor ihrer gefährlichsten Krise“
Auch beim SPIEGEL war man 1977 sicher, „dass das Jahrhundert der Schallplatte zu Ende geht“. Und auch hier hatte man die Leerkassetten als großes Problem für die Musikindustrie erkannt:

„Erstmals wurden im Jahr 1976 mehr Bandkassetten als Langspielplatten (LP) abgesetzt – teils als bereits bespielte ‚Musikkassetten‘ (MC), teils als Leerkassetten, die der Konsument selber mit Klängen füllt. Neben rund 110 Millionen LPs im Gesamtwert von 1,3 Milliarden Mark kauften zum Beispiel die Bundesbürger im vergangenen Jahr 40 Millionen MCs sowie 100 Millionen Leerkassetten…
(…)
In westdeutschen Schulklassen ist es zur Regel geworden, nur noch eine einzige Platte zu kaufen, die sämtliche Schüler kopieren. In Tageszeitungen bieten Recorder-Amateure bereits an, jedwede Kassetten-Überspielung gegen geringes Entgelt vorzunehmen.“

Gleichzeitig erinnerte der SPIEGEL auch an den verbissenen Widerstand großer Musikkonzerne wie RCA oder EMI gegen die Umstellung von der zerbrechlichen Schellack-Platte mit 78 Umdrehungen pro Minute auf die unzerbrechliche 33er PVC-LP.
Der ganze Artikel vom 18. April 1977 ist nachzulesen im SPIEGEL-Archiv: Klang-Supermarkt zum Nulltarif.

Quelle: Cliphead (via Spreeblick), SPIEGEL
(Ende) geschichtspuls/12.04.2010/mar

4 thoughts on “Leer-Kassetten und der Tod der Schallplatten

  1. Micha

    Oh ja, die guten alten Leerkassetten. Was habe ich als Kind fleißig mitgeschnitten. Ärgerlich war nur immer das lästige Rauschen und Dolby hat den Sound dumpf gemacht. Vom Radio aufnehmen war meist nicht der Hit, da der Moderater frühzeitig unterbrochen hat. Die aktuelle Download Problematik dürfte die Plattenindustrie auf Dauer allerdings wesentlich härter treffen.

  2. Pingback: Wegen sinkende Bedeutung: Sony schließt große CD-Fabrik | Finanzwertig

  3. grooveagent

    Sind Leer-Cassetten der Tod der Schallplatten? Schon damals hat man geglaubt, das ein neues Medium die Schallplatte verdrängen würde. Als in den 80igern die Compact Disk anscheinend den Musikmarkt revlotionieren würde, belächelte man die Nerds, die weiterhin das schwarze Runde kauften. Heute geht es der CD in seiner ursprünglichen Form an den Kragen. Verdrängt von der MP3-Generation. Was macht die Schallplatte im neuen digitalen Jahrtausend? Das schwarze Gold ist das einzige Medium, das seine Absätze in den letzten Jahren steigern konnte. Einige Künstler lassen sogar -in kleiner Auflage – wieder Vinyl pressen.
    Die Schallplatte wird wohl auch die kommenden Entwicklungen überstehen. Und das ist gut so.

  4. vongestern

    @ grooveagent: Die Schallplatte verlor in den letzten Jahren aber nach und nach die Unterstützung eines Grossteils der DJ-Szene (auch viele DJs, die sich jahrelang gegen digitale Medien gewehrt haben).
    Ich denke, dass die Schallplatte die CD so souverän überlebt hat, liegt – nebst Audiophilen und Sammlern – an den DJs. Diese Rückendeckung fällt nach und nach weg, leider.

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