Die Staatssicherheit der DDR soll etwa 400 Menschen währen des Kalten Krieges aus Westdeutschland entführt oder mit fadenscheinigen Gründen in den Osten gelockt haben. Das berichtete die Mitteldeutsche Zeitung (MZ) vor dem Wochenende unter Berufung auf die Dissertation der Historikerin Susanne Muhle. Demnach habe es rund 100 gewaltsame Entführungen gegeben, vorwiegend in den 50er Jahren.
„Die Zahlen beruhen auf Dokumenten der Polizei in West-Berlin und eigenen Forschungen“, erklärt Muhle, die an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster Geschichte studiert. Die Ergebnisse ihres Dissertationsprojektes „Auftrag: Menschenraub. Das Ministerium für Staatssicherheit und seine inoffiziellen Mitarbeiter im speziellen Westeinsatz“ (Arbeitstitel) will sie bis zum Jahresende vorlegen.
Die Stasi habe vor allem drei Gruppen im Visier gehabt, bilanziert die Doktorandin schon mal vorab: Angehörige westlicher Geheimdienste, prominente Antikommunisten sowie DDR-Flüchtlinge, die zuvor bei den Staatsorganen wie Stasi, Polizei oder in den Ministerien gearbeitet hatten. Die harsche Verfolgung der „Abtrünnigen“ habe nicht allein der Bestrafung gedient, sondern auch der Abschreckung anderer Fluchtwilliger in der DDR. Bei den Entführungen soll es kein spezielles „Greifer-Kommando“ gegeben haben, stattdessen wurden Kleingruppen mit „Entführer-IMs“ zusammengestellt.
Teilweise seien Menschen etwa mit dem Hinweis auf eine angebliche Erkrankung eines Verwandten in den Osten gelockt worden; teilweise setzte die Stasi auf gewaltsame Entführungen. Ein spektakuläres Beispiel hierfür ist die Entführung des 1953 in Moskau hingerichteten Juristen Walter Linse. Er wurde im Juli 1952 in West-Berlin auf offener Straße überwältigt, in ein Fluchtauto gezerrt und nach Ost-Berlin verschleppt. Zahlreiche Augenzeugen machten die Entführung für die Stasi zu einem heiklen Vorgang; in der westlichen Presse geriet das SED-Regime darauf massiv unter Druck.
In den 60er Jahren seien die Entführungsfälle allmählich geringer geworden. „Da ging es der DDR eher darum, dass ihr internationales Ansehen nicht allzu sehr ramponiert wurde“, folgert Muhle. Stattdessen habe die Stasi eher versucht, ihre Opfer mit Schikanen zu zermürben. Ein prominentes Beispiel dafür ist der 1979 aus der DDR geflohene Fußballtrainer Jörg Berger. Er berichtet in seiner Biografie über den langen Arm der Stasi im Westen. So habe sich einmal bei Tempo 160 ein Rad seines Wagens gelöst, mehrmals seien seine Reifen zerstochen worden. Spätere monatelange Lähmungserscheinungen führt Berger ebenfalls auf eine vom Ministerium für Staatssicherheit initiiert Bleivergiftung zurück. Entsprechende Anhaltspunkte habe er nach der Wende in seinen Stasi-Akten gefunden. (Biografie: Jörg Berger – Meine zwei Halbzeiten )
Nach der Wende sollen nur etwa 30 Personen wegen der Entführungsfälle angeklagt worden sein. Alle kamen mit Bewährungsstrafen davon. Die Täter hatten sich dabei laut Muhle durchweg auf einen „Befehlsnotstand“ berufen.
Mehr zum Thema:
Untersuchung: Von der Stasi entführt (Frankfurter Rundschau)
„Auftrag: Menschenraub. Das Ministerium für Staatssicherheit und seine inoffiziellen Mitarbeiter im speziellen Westeinsatz“ (Beschreibung des Dissertationsprojektes von Susanne Muhle – Uni Münster)
Quelle: MZ, zudem siehe Links
(ENDE) geschichtspuls/07.09.2009/mar
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