Das Geschichtswissen vieler Jugendlicher ist nach Langzeitstudien von Wissenschaftlern der Freien Universität Berlin mangelhaft. Regional betrachtet wissen dabei die Schüler in den neuen Bundesländern durchschnittlich mehr als ihre Altersgenossen in den alten Bundesländern. Zudem lernen sie durch den zeitgeschichtlichen Schulunterricht auch mehr hinzu, wie die Erhebungen des Forschungsverbunds SED-Staat der Freien Universität Berlin ergaben. Am geringsten sind demnach sowohl das Schülerwissen als auch der Lernerfolg in Nordrhein-Westfalen.
Schule um 1920
Bereits im Juni 2012 hatten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um Prof. Dr. Klaus Schroeder von der Freien Universität unter dem Titel „Später Sieg der Diktaturen?“ die Ergebnisse eines umfangreichen Forschungsprojekts zu zeitgeschichtlichen Kenntnissen und Urteilen von Jugendlichen vorgelegt. Nun sind detaillierte Analysen einer Langzeituntersuchung für die Bundesländer Baden-Württemberg, Bayern, Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt und Thüringen verfügbar. Diese geben weiteren Aufschluss über die Ursachen unzureichenden Wissens und falscher Einschätzungen sowie Hinweise für Verbesserungen.
Ihre regionalen Ergebnisse fassen die Forscher der Freien Universität wie folgt zusammen:
Thüringen: Idealisierung der DDR-Verhältnisse?
In Thüringen wissen die Schüler überdurchschnittlich viel über die deutsche Zeitgeschichte. Das verdanken sie zu einem Gutteil ihrem Geschichtsunterricht, der hier zu einem deutlichen Wissenszuwachs im Untersuchungsverlauf führt. Mit einem Plus von 11,5 Prozentpunkten richtig beantworteter Fragen lernen die Schüler hier fast doppelt so viel hinzu wie in NRW (plus 5,9 Prozentpunkte). Das ermöglicht auch den Thüringer Schülern ein angemesseneres Urteil über die Systeme der deutschen Zeitgeschichte. Eine gewisse Ausnahme stellt die DDR dar. Trotz einer deutlichen Wissenssteigerung hat auch nach der Behandlung der DDR im Schulunterricht mehr als die Hälfte der Schüler ein neutrales oder positives DDR-Bild. Da stellt sich für die Wissenschaftler die Frage: Existiert hier vielfach noch „das soziale Paradies in den Köpfen?“
Sachsen-Anhalt: 2. Weltkrieg ohne Judenverfolgung richtig?
Das zeitgeschichtliche Wissen der Schüler in Sachsen-Anhalt ist das höchste der beteiligten Bundesländer in der Längsschnittuntersuchung. Zudem konnten die Jugendlichen ihre Kenntnisse durch den Schulunterricht im Untersuchungszeitraum deutlich erweitern. Allerdings gelingt es ihnen den Ergebnissen zufolge häufig nicht, dieses Wissen und ihre Präferenz für liberale Demokratien auf die Realität zu übertragen. Beispielsweise sind etwa 25 Prozent der befragten Schüler der Ansicht, die Politik Adolf Hitlers wäre ohne den Zweiten Weltkrieg und die Judenvernichtung richtig gewesen. Viele Schüler scheinen nach dem Motto zu bewerten: „Freiheit ist gut – Führung besser?“
Nordrhein-Westfalen: Beim Geschichtsunterricht versagt?
In Nordrhein-Westfalen ist nicht nur das Geschichtswissen am geringsten, die Schüler profitieren hier auch am wenigsten von ihrem Schulunterricht, wie die Studie weiter ergab. Diese Wissenslücken haben Folgen: Trotz entsprechendem Geschichtsunterricht sei in Nordrhein-Westfalen zuletzt der Anteil der Schüler, die den Nationalsozialismus positiv bewerten, der höchste unter allen beteiligten Bundesländern. Insofern muss nach Ansicht der Wissenschaftler die Frage gestellt werden: „Hat der Geschichtsunterricht versagt?“
Bayern: Wiedervereinigung als Zäsur bei der Rechtsstaatlichkeit?
Bayerische Schüler haben der Untersuchung zufolge oft Schwierigkeiten, die große politisch-institutionelle Kontinuität der Bundesrepublik vor und nach der Wiedervereinigung zu erkennen. Beispielsweise glauben 60 Prozent von ihnen, dass man sich in der Bundesrepublik vor der Wiedervereinigung nicht mit rechtlichen Mitteln gegen staatliche Willkür habe wehren können. Vom wiedervereinigten Deutschland glauben das hingegen nur 20 Prozent. Die Schüler hier scheinen überzeugt von der Idee „Rechtsstaat dank Wiedervereinigung“.
Insgesamt profitieren sie der Untersuchung zufolge aber deutlich von ihrem Geschichtsunterricht. Im Vergleich der untersuchten Bundesländer ist ihr Wissen zuletzt sogar leicht überdurchschnittlich ausgefallen. Angesichts der Tatsache, dass hier aufgrund zeitlicher Verzögerungen im kultusministeriellen Genehmigungsverfahren – anders als in den anderen Bundesländern – keine Gymnasiasten befragt werden konnten, ist das für die FU-Forscher ein erfreuliches Ergebnis.
Baden-Württemberg: demokratische Werte im Fokus
Das Geschichtswissen der Schüler in Baden-Württemberg ist durchschnittlich, was angesichts des insgesamt niedrigen Kenntnisniveaus aber nicht zufriedenstellend ist, wie die Wissenschaftler betonen. Allerdings gelingt es hier besser als in anderen Bundesländern, den Jugendlichen ein Bewusstsein für die Unterschiede zwischen Demokratie und Diktatur zu vermitteln. Eine mögliche Ursache seien die baden-württembergischen Lehrpläne, die mit ihrer Bezugnahme auf freiheitliche demokratische Werte eine hervorragende Grundlage für eine „werteorientierte Wissensvermittlung“ böten.
Weiterführende Literatur
Die fünf Regionalstudien sind als Arbeitspapiere des Forschungsverbundes SED-Staat der Freien Universität Berlin erschienen:
- „Hat der Geschichtsunterricht versagt?“, Längsschnittanalyse Nordrhein-Westfalen, Nr. 45/2012
- „Freiheit ist gut – Führung besser?“, Längsschnittanalyse Sachsen-Anhalt, Nr. 46/2012
- „Rechtsstaat dank Wiedervereinigung?“, Längsschnittanalyse Bayern, Nr. 47/2012
- „Werteorientierte Wissensvermittlung“, Längsschnittanalyse Baden-Württemberg, Nr. 48/2012
- „Das soziale Paradis in den Köpfen?“, Längsschnittanalyse Thüringen, Nr. 49/2012
Alle Studien können gegen eine Schutzgebühr von jeweils 20 Euro direkt beim Forschungsverbund SED-Staat bestellt werden. Zudem kann das Buch „Später Sieg der Diktaturen? Zeitgeschichtliche Kenntnisse und Urteile von Jugendlichen“ von K. Schroeder et al. mit den Gesamtergebnissen des Forschungsprojekts weiterhin über den Peter Lang Verlag oder im Buchhandel bezogen werden (ISSN 0946-9052).
Hintergrund: An der Längsschnittanalyse der Freien Universität Berlin nahmen die fünf Bundesländer Baden-Württemberg, Bayern, Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt und Thüringen teil. Dabei wurden in drei Städten jedes Landes jeweils zwei bis drei Klassen über einen Zeitraum von eineinhalb Jahren mehrfach befragt. Insgesamt nahmen 785 Schüler der 9. und 10. Jahrgangsstufen der verschiedenen Schularten an der Untersuchung teil. Durch diese Längsschnittuntersuchung sollen Rückschlüsse auf den Politik- und Geschichtsunterricht ermöglicht und Hinweise auf Verbesserungsmöglichkeiten der historisch-politischen Bildung gegeben werden.
Quelle: Freie Universität Berlin
Bild: S. Hofschlaeger / pixelio.de
(Ende) geschichtspuls/09.08.2012/mar
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