Kriegsvergewaltigungen gehören bis heute zu den großen Tabus des Zweiten Weltkrieges. Doch wenn am Donnerstag (23. Oktober 2008) in den Kinos der Film „Anonyma – eine Frau in Berlin“ anläuft, werden sich viele Frauen in Deutschland wieder an ihre schrecklichen Erlebnisse zum Ende des Zweiten Weltkrieges erinnern. Um das Thema sexualisierte Kriegsgewalt weiter zu enttabuisieren, startete jetzt eine Studie am Klinikum der Universität Greifswald.
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„Frauen, die in den letzten Kriegstagen und unmittelbar danach vergewaltigt wurden oder sexuelle Massenübergriffe durch die Sieger erlebten, leiden oft bis heute an den traumatischen Folgen der Erlebnisse“, erklärt der Psychiater Dr. Philipp Kuwert, Leiter des Projektes. Vielen sei nicht einmal bewusst, dass ihre Psyche bis heute leide und manch quälende Erkrankung dort ihre Wurzeln habe.
Für die Studie werden Teilnehmerinnen aus Vorpommern gesucht, die bereit sind, an der umfassenden Befragung teilzunehmen. Ziel ist es, die heutige psychische Belastung betroffener Frauen zu evaluieren, die damaligen Umstände der Kriegsvergewaltigungen und deren Verarbeitungsmuster zu erfassen und verbesserte Therapieansätze zur Behandlung der traumatischen Spätfolgen zu entwickeln.
Derzeit reichen die finanziellen Mittel nur für begrenzte Befragungen in Vorpommern, je nach Resonanz auch in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin-Brandenburg. Nach Ansicht der Projektbeteiligten wäre es jedoch dringend geboten, die Untersuchung auszudehnen, um so eine umfassende Dokumentation der Folgen sexualisierter Kriegsgewalt zu ermöglichen. Beide sind sehr an einer Internationalisierung des Themas interessiert, um so auch die Länder einbeziehen zu können, die damals Opfer des deutschen Vernichtungskrieges wurden. Es gibt Dokumente, die massenhafte Vergewaltigungen zum Beispiel durch SS-Angehörige in den damals besetzten Teilen Osteuropas dokumentieren. Erste Kontakte mit osteuropäischen Universitäten (St. Petersburg, Donnetsk) wurden bereits hergestellt.
Kuwert hofft, dass die enttabuisierende Wirkung des Kinofilms hilft, Frauen zu bewegen, an dieser Studie teilzunehmen. Angesichts der begrenzten Mittel werden insbesondere betroffene Frauen aus Vorpommern eingeladen, sich über die Studientelefonnummer 0176-87254306 für eine Befragung anzumelden. Frauen aus weiteren Teilen Deutschlands können eventuell bei Folgeprojekten berücksichtigt werden, so dass die Arbeitsgruppe auch an bundesweiten Rückmeldungen grundsätzlich Interesse hat. Weiterhin sind betroffene Kinder eingeladen, um an einem Folgeprojekt zu deren Belastungen und Identitätsentwicklung zu einem späteren Zeitpunkt teilzunehmen. Vertraulichkeit wird zugesichert.
Vergewaltigung im Krieg wirkt psychisch lange nach
Welche psychischen Langzeitfolgen Frauen ertragen, die im Krieg vergewaltigt wurden, wurde bereits von Regina Steil untersucht. Die Psychologin an der Friedrich-Schiller-Universität Jena befragte für ihre empirische Studie 32 Frauen, die in Deutschland gegen Ende des Zweiten Weltkrieges vergewaltigt wurden. 60 Prozent der Befragten litten unter posttraumatischen Belastungsstörungen, die sich in Angstzuständen, Nervosität, Schlafstörungen und leidvollen Erinnerungen äußerten, berichtete Steil schon 1999. Bei vielen von ihnen überschattete das sexuelle Gewalterlebnis über Jahrzehnte hinweg das Ehe- und Familienleben. Etwa die Hälfte der betroffenen Frauen verschwieg das Tabu-Thema ihren Ehemännern und Kindern aus Scham und aus Angst vor unverständigen oder verletzenden Reaktionen.
Zwar sei es vielen von Steils Gesprächspartnerinnen gelungen, das traumatische Ereignis durch Strategien zu bewältigen, die für Opfer sexueller Gewalt in Friedenszeiten nicht in Frage kommen. Jedoch hätten sie oftmals nach dem Ereignis keine normale Sexualität mehr erleben können. Ihr erduldetes Leid sei nie getröstet oder auch nur gesellschaftlich anerkannt worden. „Wir dürfen dieses Tabu-Thema nicht totschweigen oder an die Zeitgeschichte verweisen“, verlangte Steil. „Wir müssen endlich offen darüber reden, gerade weil die Vergewaltigungsopfer des Zweiten Weltkrieges schon so alt sind.“ (Zusammenfassung von Steils Ergebnissen)
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Webseite zum Film „Anonyma“
Quelle: idw, zudem siehe Links
(ENDE) geschichtspuls/22.10.2008/mar