Seit Jahresanfang veröffentlicht die Stasi-Unterlagenbehörde BStU auf ihrer Webseite in regelmäßigen Abständen Dokumente aus dem Inneren der DDR-Staatssicherheit zur friedlichen Revolution 1989 (Die Stasi im Jahr 1989 ). So soll die Anbahnung und der offene Ausbruch der revolutionären Krise aus der Perspektive der Staatssicherheit dokumentarisch nachgezeichnet werden. Bei dem jüngst vorgestellten Dokument handelt es sich um die Niederschrift einer Rede des Ministers für Staatssicherheit, Erich Mielke, drei Tage nach dem Rücktritt Erich Honeckers.
„Es geht um die Machtfrage“
Am 18. Oktober 1989 trat Erich Honecker auf Drängen der obersten SED-Führungsriege von seinen Funktionen zurück. Dazu hatte das Zentralkomitee der SED getagt und Egon Krenz zum neuen Generalsekretär ernannt. Mit einer partei-internen „Wende“ wollte die SED trotz anschwellender Oppositionsbewegung ihre Macht sichern. Drei Tage später erläuterte Erich Mielke, Minister für Staatssicherheit, seinen Generälen und Obersten die veränderte Situation. Sein Ziel war es, „die führende Rolle der Partei zu gewährleisten“ und insbesondere die Existenz des MfS zu sichern.
In einer ausführlichen Rede kritisierte er die lange Untätigkeit der Parteiführung. Das MfS habe stets umfassende Informationen zur „realen Lage“ geliefert, allerdings wurden, so Mielke, „nicht rechtzeitig die richtigen Schlussfolgerungen gezogen“. Selbst bei progressiven Kräften – bis weit in die Reihen der Partei – gebe es „Erscheinungen der Verunsicherung, der Ratlosigkeit bis hin zur Resignation“. Der Bürgerrechtsbewegung sei es hingegen gelungen, „ihre bisherige gesellschaftliche Isolierung zu durchbrechen und einen wachsenden Einfluss in der Bevölkerung zu erzielen“.
Hier einige Auszüge aus Mielkes Rede:
„Der Gegner glaubte, mit dem 40. Jahrestag den geeigneten Zeitpunkt gefunden zu haben, um durch das Aufgreifen und Hochspielen der sich im Inneren angehäuften Probleme und die ungenügende politische Reaktion darauf Zweifel am Sozialismus und seiner Perspektive zu erzeugen, Menschen irrezuführen und gegen unsere Ordnung auf die Straße zu bringen.
(…)
Das Ziel der Initiatoren der antisozialistischen Sammlungsbewegungen ist es, unter dem Deckmantel der „Demokratisierung“ und „Reformierung“ bestehende gesellschaftliche Verhältnisse und Strukturen pluralistisch zu verändern, die führende Rolle der SED zu untergraben und schließlich die verfassungsmäßigen Grundlagen, die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung insgesamt zu beseitigen.
Ein hoher Grad der Gefährlichkeit ergab sich vor allem daraus, dass den Maßnahmen zur Gewährleistung bzw. Wiederherstellung der Ordnung nicht Folge geleistet wurde und sie auf immer stärkeren Widerstand stießen. Aufgeputscht durch Provokateure, Randalierer, Rowdys und andere Kriminelle, aufgeputscht aber auch durch sich eskalierende provokatorische Losungen (bis hin zu ‚Stasi raus‘), verschärfte sich zusehends die Konfrontation zwischen diesen Kräften und den eingesetzten Angehörigen der Schutz- und Sicherheitsorgane.
(…)
Fest steht aber auch, dass am letzten Montag in Leipzig und anderen Städten erneut Zehntausende auf die Straße gingen. Die Zahl der Orte, in denen es zu Demonstrationen kommt, hat sich fast täglich erweitert. Die bisher unberührten Nordbezirke sind jetzt auch davon erfasst. Die damit verbundenen großen Gefahren für erneute Konfrontation, für die Gewährleistung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit sind keineswegs beseitigt. So können wir zum Beispiel auch jetzt nicht mit Bestimmtheit sagen, wie sich die Lage am kommenden Montag entwickeln wird.
Wir dürfen uns keinen Illusionen hingeben, dass nun mit der ZK-Tagung eine sofortige Beruhigung der Lage zu erwarten ist. …“
(Quelle: BStU, MfS, ZAIG 4885, Bl. 3-76)
Gegen die Bürgerrechtsorganisationen setzte Mielke vor allem auf den Einsatz inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit. Verhaftungen seien aktuell auszuschließen, aber das müsse nicht so bleiben. Daher gelte es, alle Personen, die sich gegen die Staatssicherheit wendeten, „zu erkennen, sie sorgfältig zu erfassen und zugriffsbereit zu halten“.
Starres Weltbild der Parteiführung
Die Rede Mielkes zeigt, wie festgefahren das Weltbild der inneren SED-Führung im Herbst 1989 blieb. Die so genannten Anstifter der Proteste wurden im Westen vermutet und innerhalb der DDR seien es bestenfalls „Provokateure, Randalierer, Rowdys und andere Kriminelle“, welche die Arbeiterklasse aufwiegeln würden. Gleichzeitig machte Mielke aber auch deutlich, wie stark den Sicherheitsorganen die öffentliche Kontrolle bereits aus der Hand geglitten war.
Das Dokument (31 Seiten) gibt es auf der Homepage der Bundesbehörde für die Stasi-Unterlagen: Referat zur Auswertung der 9. Tagung des ZK der SED und den sich daraus ergebenden ersten Schlussfolgerungen für die Tätigkeit des MfS.
Quelle: BStU
(ENDE) geschichtspuls/20.10.2009/mar