Eine außergewöhnliche Sammlung historisch wertvoller Patientenakten aus Berlins erster Irrenanstalt hat ihren Weg in das Landesarchiv gefunden. Rund 90.000 Dokumente aus der ehemaligen Karl Bonhoeffer-Klinik in Berlin-Reinickendorf können Forscher künftig an zentraler Stelle einsehen. „Dies ist eine der wohl umfangreichsten und außergewöhnlichsten Übernahmen von Archivgut, die es in Berlin gegeben hat“, erklärte Uwe Schaper, Direktor des Landesarchivs Berlin.
Aufbewahrt wurden die Unterlagen, für die gemäß Archivgesetz eine Aufbewahrungspflicht von nur 30 Jahren besteht, bislang vom Klinikkonzern Vivantes. „Wir sind sehr froh, wenn diese hochinteressanten Dokumente der Zeitgeschichte nun zu wissenschaftlichen Untersuchungen genutzt werden können, was bisher leider nur eingeschränkt möglich war“, betonte Vivantes-Geschäftsführer Peter Schnitzler anlässlich der Unterzeichnung des offiziellen Übernahmeprotokolls.
750 Meter Psychiatrie-Geschichte
Nebeneinander gelegt umfasst der übergebene Aktenbestand (bis zum Jahrgang 1960) 750 laufende Meter, übereinander gelegt würde der Stapel 600 Meter hoch werden. In der Mehrzahl handelt es sich um Patientenakten der 1880 eingerichteten „Städtischen Irren- und Idioten-Anstalt zu Dalldorf“, die 1925 in „Wittenauer Heilstätten“ umbenannt wurde und 1957 den Namen „Karl Bonhoeffer Nervenklinik“ erhielt. Aus ihnen lässt sich über einen Zeitraum von etwa hundert Jahren der Umgang mit den Patienten in einer namhaften psychiatrischen Klinik dokumentieren.
|
Schwarzes Kapitel NS-Zeit
Einen Schwerpunkt der Überlieferung für das 20. Jahrhundert stellen neben einigen hundert Personalakten aus den „Wittenauer Heilstätten“ umfangreiche Patientenakten, insbesondere aus der NS-Zeit und von Opfern der NS-Euthanasie, dar. Sie dokumentieren das dunkelste Kapitel der Klinik, während dessen Ärzte und Pflegepersonal Medikamentenforschung an ihren Schutzbefohlenen sowie den Abtransport Tausender ihrer Patienten in die Gaskammern oder Tötungsanstalten zuließen. Sie töteten aggressive oder inkontinente Patienten sogar selbst, berichtet Vivantes-Psychologin Christina Härtel. Bestraft worden sei dafür nach dem Krieg niemand, ergänzt sie. Und so manche Akte, die Unmenschlichkeit und Unrecht festhielt, sei später spurlos verschwunden.
Für viele so genannte „Stolpersteine„, insbesondere in Reinickendorf, ließen sich die Biografien der Opfer bereits aus den archivierten Krankengeschichten erschließen. Neben biografischen Forschungen zu Einzelschicksalen – sowohl von Prominenten als auch von weniger berühmten Leuten – können nun weitergehende medizinhistorische oder psychiatriegeschichtliche Untersuchungen starten. Unter den Patienten befanden sich beispielsweise Edith Radtke – Mutter des Filmregisseurs Rosa von Praunheim – sowie die polnische Fabrikarbeiterin Franziska Schanzkowski – die sich Anfang der 1920er Jahre als russische Zarentochter Anastasia Romanowa ausgab.
Quelle: Vivantes, HAZ Online
Foto: Ge.Ko2 (Blick ins BStU-Archiv Potsdam)
(ENDE) geschichtspuls/21.07.2008/mar